Die Stärke aktiver Gewaltfreiheit
Gewaltfreiheit, also aktiver Verzicht auf Gewalt – das soll stark und wirksam sein?
Wenn das stimmt, hätte das große Bedeutung für die ganze Welt. Weltweit gibt es mehr als 170 gewaltsame Krisen und 20 Kriege, die der Logik von Mao Zedong zu folgen scheinen: „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.“
Das sah der begeisternde indische “Vater der Nation” Mohandas K. Gandhi, genannt Mahatma, ganz anders. Und er machte es vor: Entschlossen setzte er sich für Wahrheit und Gerechtigkeit ein und trat allen Konfliktbeteiligten stets mit Respekt und Wohlwollen gegenüber. Das führte zu immer mehr Zustimmung und – wenn auch manchmal erst nach langen, aber beharrlichen Auseinandersetzungen – oft zum Erfolg.
Gandhi sagte: „Die Kraft von Liebe und Mitgefühl ist unendlich viel größer als die Kraft von Waffen.“ Diese Streitkunst nannte er „Satyagraha“. Mit ihr führte er Indien gegen die damals stärkste Weltmacht England ohne Blutvergießen in die Unabhängigkeit.
Mao oder Gandhi: Was sagt die Forschung?
Wie erfolgreich ist gewaltfreies Vorgehen, insbesondere im Vergleich zu Gewaltanwendung, tatsächlich?
Auf diese Frage suchten die Politikwissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria Stephan eine durch Tatsachen begründete Antwort. Die Auswertung von 323 gewaltsamen und gewaltfreien Aufständen und Kampagnen von 1900 bis 2006 ergab – die Forschenden staunten selbst – dass gewaltsame Aufstände zu rund drei Vierteln scheiterten, während von den gewaltfreien etwas mehr als die Hälfte erfolgreich war. Die Erfolgsquote zivilen Widerstands war also doppelt so hoch wie die der bewaffneten Aufstände.
Die Studie „Why civil resistance works“ war die erste statistische Studie zum Thema Gewaltfreiheit und erregte viel Aufsehen. Sie erschien in renommierten Zeitschriften wie dem „Journal for Peace Research“ und „National Security“ und gilt bis heute als eine der wichtigsten Studien im Bereich Gewaltfreiheit und Bewegungsforschung.
Wir glauben: Ein Grund für die großen Erfolgsquoten ist, dass aktive Gewaltfreiheit mehr beinhaltet, als keine Gewalt anzuwenden. In dem Begriff‚ Gewaltfreiheit‘ kommt diese Kraft und Aktivität leider nicht genug zum Ausdruck.
Das Handlungskonzept aktiver Gewaltfreiheit in der Geschichte
Bei jeglicher Herrschaft sind mindestens zwei Seiten beteiligt. Auf dieser Erkentniss beruhen die Methoden der gewaltfreien Vorgehensweise, auch der Sozialen Verteidigung. Im Wesentlichen bestehen sie aus verschiedenen Formen gewaltfreier Nichtzusammenarbeit mit einem Missstand und des aktiven Eintretens für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit. Ihre hohe Wirksamkeit kommt durch zwei Grundelemente zustande:
Herrschaft ist nur so stark, wie Menschen gehorchen.
Auch Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit bewegen zum Handeln.
Seit Jahrtausenden haben Menschen durch Nichtzusammenarbeit und den Appell an Menschlichkeit und Gerechtigkeit politische Erfolge zum Abbau von Gewalt erreicht, z. B. errangen die Plebejer im römischen Reich so politischen Einfluss. Diese Vorgehensweise aber als allgemein anwendbares, wirksames Handlungkonzept zu bedenken, ist in Schriften erst seit 700 Jahren belegt. Die folgende Zeitleiste zeigt die wichtigsten Stationen.
Liu-Ji
Herrschaft ist nur so stark, wie Menschen gehorchen.
Wird den Mächtigen die Zusammenarbeit verweigert, so verlieren sie ihre Machtbasis. Diese Erkenntnis vermittelte der chinesische Philosoph, Politiker und Stratege Liu-Ji im 14. Jahrhundert jungen Prinzen durch die Fabel vom Affenmeister.
Étienne de la Boétie
Ähnlich wie Liu-Ji schrieb Étienne de la Boétie in seinem Werk „Von der freiwilligen Knechtschaft der Menschen“ (1559):
„Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei. Ich will nicht, dass ihr den Tyrannen verjagt … stützt ihn nur nicht; und ihr sollt sehen, wie er, wie ein riesiger Koloss, dem man die Unterlage nimmt, zusammenbricht.“
Henry David Thoreau
Das Eintreten für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit
Der Philosoph Henry David Thoreau weigerte sich 1846, Steuern zu zahlen und damit den “ungerechten Krieg” der USA gegen Mexiko und die Sklaverei zu unterstützen. Man warf ihn ins Gefängnis. Anschließend schrieb er seinen bis heute inspirierenden Aufsatz “Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat”.
Gandhi
Gandhi’s Streitkunst Satyagraha beinhaltet beide Ansätze: die gewaltfreie Nichtzusammenarbeit mit einem Missstand wie Liu-Ji und Étienne de la Boétie es erklärten und das Eintreten für Menschlichkeit und Gerechtigkeit, wie von Thoreau gezeigt. Mit Hilfe von Satyagraha läutete Gandhi das Ende der britischen Kolonialherrschaft über Indien ein.
Herrschaft beruht auf Gehorsam
Herrschaft ist nur so stark, wie Menschen gehorchen.
Die Idee, daraus ein Handlungskonzept für Widerstand gegen ungerechtes Herrschen abzuleiten, ist erstmals in einer 700 Jahre alten chinesischen Fabel des Philosophen Liu-Ji belegt.
Diese erklärte jungen Prinzen ihre Abhängigkeit von den Untertanen so:
Der Affenmeister tyrannisierte seine Affen brutal, damit sie jeden Tag für ihn im Urwald Früchte sammelten. Als eines Tages ein junger Affe fragte: „Sind wir auf ihn angewiesen?“ wurde sich die Horde ihrer Möglichkeiten bewusst. In der Nacht brachen sie aus dem Käfig aus und verließen den Affenmeister. Der Mann verhungerte.
In ähnlichem Sinne Sinne sprach sich um 1559 der Franzose Étienne de la Boétie als Jura-Student, nachdem sein Professor wegen kritischer Äußerungen gegen den König hingerichtet worden war, in einem Aufsatz „Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen“ gegen den Tyrannenmord und stattdessen für gewaltfreie Nichtzusammenarbeit aus:
„Seid entschlossen, keine Knechte mehr zu sein, und ihr seid frei. Ich will nicht, dass ihr den Tyrannen verjagt … stützt ihn nur nicht; und ihr sollt sehen, wie er, wie ein riesiger Koloss, dem man die Unterlage nimmt, zusammenbricht.“
Das Eintreten für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit
Obwohl Thoreau für seine Weigerung Steuern zu zahlen nur einen Tag im Gefängnis sitzen musste, war er inspiriert, Vorträge zu seiner Verweigerung zu halten, die er schließlich im besagten Aufsatz zusammenfasste. Er schrieb unteranderem:
„(Wenn das Gesetz … ) aus dir den Arm des Unrechts … macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach’ dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten.“
Für viele Menschen legte sein Aufsatz den Grundstein für einen gewaltfreien Widerstand auf Basis von Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit und prägt bis heute das Verständnis von zivilem Ungehorsam (civil disobedience).
Zeit seines Lebens setzte sich Thoreau für den Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit und Sklaverei ein, bevor er 1862 verstarb. Sowohl Dr. Martin Luther King Jr. als auch Gandhi, zwei Größen des aktiven gewaltfreien Widerstands, lasen Thoreau’s Aufsatz und wurden von seinem Werk inspiriert.
Satyagraha
Anders als Thoreau verbrachte Gandhi für seinen Widerstand insgesamt acht Jahre im Gefängnis. Während eines Aufenthaltes im Dezember 1907 – er und seine Anhänger hatten sich geweigert, einem neuen Meldegesetz für Inder in der britischen Transvaal-Kolonie in Südafrika zu folgen – las Gandhi Thoreau’s Aufsatz und fand wesentliche Übereinstimmungen mit seinen eigenen Ideen.
Er druckte den Aufsatz in seiner Aktionszeitschrift nach und erreichte damit Tausende seiner Landsleute. Gemeinsam brachen sie am Ende des Salzmarschs 1930 das entwürdigende Salzgesetz der Briten, indem sie selbst Salz herstellten. Sie alle standen mit dieser Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand Kolonialismus persönlich für Gerechtigkeit und Menschlichkeit ein und waren zur harten Konsequenz bereit, Schläge und Gefängnis ohne gewaltsame Gegenwehr auf sich zu nehmen. Durch diesen zivilen Ungehorsam läuteten sie das Ende der britischen Kolonialherrschaft ein.
Dieser Erfolg machte seine Streitkunst Satyagraha und zivilen Ungehorsam weltweit bekannt. Der nichtkriminelle Gesetzesbruch als gewaltfreie Form von Nichtzusammenarbeit und Protest gegen herrschendes Unrecht erlangte durch Gandhis glaubwürdige Persönlichkeit auch gesellschaftliche Anerkennung.